von Texterkolonie
Beteiligung kann unterschiedliche Formen annehmen. Ganz deutlich ist aber: Beteiligung schafft Zugehörigkeit. Das zeigt sich bei der Umgestaltung einer Dachterrasse im AWO Seniorenzentrum Salzäcker in Stuttgart.
Werner Willrett ist hochkonzentriert. Er kneift die Augen zusammen, leckt sich mit der Zunge über die Lippen, runzelt die Stirn. Es kann losgehen. Sein Werkzeug: ein gelber Meterstab. Sein Objekt der Messbegierde: ein kantiger, schwarzer Pflanzenkübel. Der 78-Jährige klappt den Meterstab auseinander, nimmt Maß in Höhe, Länge und Breite, stemmt anschließend die Hände in die Hüfte und verkündet zufrieden: „40 Zentimeter breit – wenn wir also unsere ganzen Kübel hier längs nebeneinander stellen, haben alle Platz. Hab ich‘s doch gesagt …“
Auf der Dachterrasse des AWO Seniorenzentrums Salzäcker in Stuttgart herrscht frühlingshafter Betrieb. Setzlinge von jungen Tomaten- und Kressepflänzchen in Joghurtbechern werden in die Sonne gekarrt, Säcke mit Blumenerde auf einem Wagen auf die Terrasse bugsiert, gusseiserne Bänke geschleppt, ein Strandkorb von A nach B und wieder zurück getragen, und Rechen, Harke, Spaten liegen fürs Unkrautjäten bereit.
Was hier vor sich geht? Ein praktisches Beispiel für einen gelungenen Beteiligungsprozess. Hier haben Bewohner, Mitarbeiter und Angehörige gemeinsam an einem Runden Tisch erarbeitet, wie die Umgestaltung der Dachterrasse vonstatten gehen könnte. Erst wurde überlegt, dann abgestimmt, und jetzt angepackt. Was so einfach klingt, war ein längerer Prozess. 2015 bot die Bürgerstiftung Stuttgart dem Seniorenzentrum an, leitende Mitarbeiter für die Leitung Runder Tische zu qualifizieren. Das Ziel: Bei unterschiedlichen Projekten des Pflegeheims zukünftig all jene zu hören und zu involvieren, die es tatsächlich betrifft.

Thomas Burghoff fand das als Leiter des Seniorenzentrums eine spannende Idee. „Unser Regelbetrieb läuft zwar nach einem straffen Zeitplan ab und es wird jeder Mitarbeiter gebraucht. Dennoch interessierte mich, was nach solch einer Fortbildung passieren würde – bei dem Mitarbeiter und auch den Themen in unserer Einrichtung.“
Ein Mann wird Kümmerer
Michael Hanna sollte zu den Qualifizierungsworkshops der Breuninger Stiftung ein konkretes Projekt mitbringen, bei dem eine Beteiligung initiiert werden könnte. Schnell war ihm klar: Die Umgestaltung der Dachterrasse sollte es sein. „Das schwirrte als Thema schon lange bei uns in den Köpfen herum, aber nie ist etwas daraus geworden. Da wollten wir herausfinden, ob es uns mit einem Runden Tisch gelingt.“
Der Ergotherapeut absolvierte die Qualifizierung zur Leitung Runder Tische, um später im Heim neue Projekte auf Basis dieses Moderationskonzepts umzusetzen. Beim Runden Tisch zur Gestaltung der Dachterrasse übernahm er die Aufgabe des Kümmerers, der als Bindeglied zwischen Moderation und Teilnehmer organisatorische Aufgaben übernimmt. Geleitet wurde der Runde Tisch von den zwei externen Moderatorinnen Lisa Weis und Anna Lammer. Die beiden Frauen wurden ebenfalls von der Breuninger Stiftung in der Leitung Runder Tische ausgebildet und fungierten als neutrale Vermittler beim Beteiligungsprozess. „Es ist sehr sinnvoll, wenn die Moderation unparteiisch ist“, weiß Anna Lammer.
„Denn nur wenn man objektiv ist, kann man einen Prozess fair und glaubwürdig leiten – ansonsten gäb‘s früher oder später wohl Konflikte.“ Ihre Kollegin Lisa Weis ergänzt: „Wir haben uns akribisch vorbereitet. Dennoch zeigte sich im Laufe der Sitzungen, dass Gruppen eine eigene Dynamik entwickeln, der man in der Moderation folgen und sich damit auch vom eigenen Masterplan entfernen muss. Da kommen Themen und Reaktionen auf, mit denen man nicht rechnen konnte. Diese dann zu berücksichtigen, ist dann ebenfalls Teil des Beteiligungsprozesses.“

Jeder kann beteiligt werden
Neben noch recht aktiven Bewohnern des Seniorenzentrums saßen auch drei demente Menschen mit am Runden Tisch, erzählt Michael Hanna. „Da sie bereits in einem fortgeschrittenen Stadium sind, hatten wir eigentlich keine allzu großen Erwartungen an sie“, erinnert er sich. „Doch kaum wurden sie involviert, aktivierten sie ihr Fachwissen aus ihrem früheren Beruf. Einer war beispielsweise sein Leben lang Maurer gewesen und brachte richtig gute Vorschläge ein. Das war schon faszinierend, was so ein Beteiligungsprozess bei den Menschen auslöste – sozial wie kognitiv.“ Aber auch der Ergotherapeut selbst hat von der Qualifikation profitiert: „Michael Hanna hat mit der Fortbildung wahnsinnig viel gelernt und neue Kompetenzen entwickelt, die wir ganz sicher auch bei anderen Themen bald einsetzen werden“, freut sich Leiter Thomas Burghoff. „Auch für unsere Bewohner war es wichtig, die Fähigkeit für Konsens zu entwickeln. Sie haben gelernt, auch mal einen Kompromiss einzugehen – wenn auch vielleicht zähneknirschend.“ Das Ergebnis der Runden Tische habe alle überzeugt.
Vom Rosenbusch bis zum Brunnen
Die Identifikation mit dem Projekt war und ist also groß und die Bewohner nehmen die Sache wunderbar ernst – sogar so ernst, dass manche von ihnen am Tag des ersten Arbeitseinsatzes Anfang April erst einmal beleidigt von dannen ziehen, als es mit den Arbeiten nicht wie besprochen um Punkt 9 Uhr losgeht, sondern aufgrund einer kleinen Verspätung der Gärtnerin erst um kurz vor 10. Michael Hanna nimmt die kleine, demonstrative Protesthaltung einiger Heimbewohner mit Humor. „Sie durften sich am Runden Tisch einbringen – da werden sie sich das Mitmachen nicht nehmen lassen.“ Schließlich gibt es nach der Abstimmung über die besten Ideen einiges zu tun: Terrasse begrünen, Unkraut jäten, Kräuter pflanzen, Rosenbusch schneiden, Pflanzkübel aufstellen, Hochbeete anlegen, Sitzecke aufbauen oder den kleinen Brunnen mit Solarbetrieb in Gang bringen.
Anpacken erlaubt
Doris Willrett, die gemeinsam mit ihrem Mann ein Doppelzimmer im Haus belegt, hat sich inzwischen der Setzlinge angenommen. So langsam und vorsichtig sie sich mit ihrem Rollator durch die Gänge bewegt, so forsch sortiert sie die Setzlinge aus den Joghurtbechern aus. „Da sind zu viele Pflanzen drin. Die können gar nicht wachsen, da muss man die Schwachen raussortieren oder gleich umpflanzen. Und das hier …“ – sie zeigt auf einen kleinen Becher, in den die Samen offenbar tütenweise hineingeschüttet wurden und das Grün nun entsprechend wuchert – „… das geht schon mal gar nicht! Viel z‘viele Pflänzle für oin Becherle!“ Ihr Mann nickt anerkennend von den Pflanzenkübeln herüber, Michael Hanna beharkt derweil mit Gärtnerin Dorothea Hanagarth eines der Beete, und auch die zuvor vergrämten Heimbewohner haben sich inzwischen eingefunden. Aktiver Teil eines großen Ganzen zu sein – das hat doch noch jeden aus seiner Höhle gelockt.
Dieser Text wurde von der Texterkolonie für die NOOKEE (Magazin der Breuninger Stiftungsgruppe für Placemaking, Beziehungslernen und Beteiligung) 02/2017 geschrieben.